von Eva Wattolik
Entlang schwarzer Linien aus Tusche, die menschliche Körperteile umreißen, apparative Aufbauten andeuten oder räumliche Zusammenhänge entwerfen, tastet sich der Blick des Betrachters entlang. Identifizierte er gerade noch einen Schwarm aus Augen, einen Fotoapparat, einen Arm, so versickert der Strich plötzlich im großzügig belassenen Weißraum der 130 mal 185 cm großen Papierfläche. Was von Nina Annabelle Märkl (geb. 1979) zunächst beschreibend gesetzt war, gewinnt an Eigendynamik und spannt sich in den Zwischenraum von Pechschwarz und strahlendem Hell.
„Sie entziehen sich ihrer Fixierung“ (2013) lautet der Titel einer programmatischen Zeichnung, deren Aussage auf die gegenständliche Ebene bezogen werden kann, sofern man die von rechts oben nach links unten in mehrfachen Maßstabsprüngen gestaffelten Figurenkonstellationen aufeinander bezieht. Wie beim Marionettenspiel werden sie teilweise durch lange Fäden aus Fingerspitzen gehalten und verhalten sich gleichzeitig davon unberührt. Nicht erfasst werden kann aber auch das Ganze der Arbeit, zumindest nicht mittels eines einzigen Blicks. So bedarf es eines nahen Herantretens an die Bildoberfläche, um die filigranen Verästelungen der Zeichnung zu verfolgen. Mit einigen Schritten Abstand wiederum entziehen sich alle Details dem forschenden Auge. Aufgrund der forcierten Zeitlichkeit des Wahrnehmungsvorgangs kann man von einem filmischen Sehen sprechen, das die statische Zeichnung animiert. So ist es, als wechselten sich in loser Abfolge Nahaufnahmen mit Halbtotalen ab; die vervielfachten Körperteile und Gegenstände erscheinen als Spuren einer Bewegungs- und Handlungsabfolge, oder als unterschiedliche Kameraeinstellungen auf den gleichen Gegenstand.
Der durch Kino, Fernsehen und Computer trainierte Blick des Betrachters wird in der Darstellung durch das Kameraauge eines Fotoapparats erwidert, den eine großformatig angelegte weibliche Figur in ihren Händen hält und frontal aus dem Bild richtet. Aufgrund der formalen Ähnlichkeit des Objektivs sowohl zu ihren Augen als auch zu der Schraubstelle, die den Unterarm an den Oberarm zu montieren scheint, entsteht ein Vergleich zwischen den Körperteilen und dem Apparat. In „Understanding Media“ (1964) beschrieb Marshall McLuhan Medien als Ausweitungen des menschlichen Zentralnervensystems, die dazu dienten, Entlastung von jenem angsterzeugenden Druck herbeizuführen, der sich im Zuge der Moderne durch Beschleunigung und Reizüberflutung aufstaute. Da Medien Prothesen seien, ginge allem Mediengebrauch Selbstamputation voraus. Diese betäube den jeweiligen Menschen und verhindere ein reflexives Erkennen der eigenen Verstümmelung sowie der eigentlichen Wirkmächtigkeit von Medien. Deren Bedeutung sei nämlich nicht in den transportierten Inhalten zu suchen, sondern in der Konditionierung von Wahrnehmungsgewohnheiten.
In „Justice“ (2013) ist die papierne Haut der Arbeit gerade an der Stelle sorgfältig mit dem Messer aufgeschnitten, an welcher in einem piktorialen Gefüge von menschlichem Bauch und mit Zähnen bespicktem Schlund eine Operation stattzufinden scheint. Eine Hand dringt mit einer Pinzette in die dargestellte Körperöffnung ein und überspannt den aufklaffenden Hohlraum der Arbeit, der von einer Kupferplatte hinterfangen wird. Dort, wo das Papier sorgfältig aufgetrennt wurde, berühren sich der illusionistische Raum der Zeichnung und der reale Raum des Bildobjekts. Damit verfolgt Nina Annabelle Märkl grundsätzlich eine künstlerische Strategie, wie sie Lucio Fontana (1899-1968) ab 1948 unter dem Begriff des „concetto spaziale“ etablierte. So schlitzte dieser zumeist monochrom bemalte Leinwände mit dem Messer auf und legte damit die dritte Dimension frei. Arbeiten wie „Justice“ weisen zwar kleinteiligere und kompliziertere Schnitte auf, setzen aber auch auf die produktive Kraft der Zerstörung. Marshall McLuhan hätte vielleicht davon gesprochen, dass das Medium zur Botschaft wird.
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