von Mirjam Elburn
Die Zeichnung ist die ursprünglichste aller künstlerischen Äußerungen des Menschen, eine grundlegende Ausdrucksform, die ihren Anfang mit dem Ursprung der Kulturgeschichte des Menschen hat: älteste Zeugnisse sind Felszeichnungen, in Stein geritzte oder mit Ruß auf die Wand gezeichnete Jagdszenen. Die beginnende Eigenständigkeit der Zeichnung seit dem 15. Jahrhundert wird begleitet von einem heftigen akademischen Diskurs über den Primat der Farbe oder die Vorrangstellung der Linie, ohne bis heute eine tatsächliche Theorie der Zeichnung hervorzubringen. Die Zeichnung wird vorerst als eigenständig anerkannt, wobei ein erneuter Diskurs mit der Moderne beginnt – diesmal jedoch an der Zeichnung selbst. Mit dem 19. Jahrhundert verwischen die Grenzen zur Malerei und aufgrund des Verlustes der Eindeutigkeit der Mittel wird oftmals von einer Krise der Zeichnung gesprochen. Diese Krise scheint jedoch überwunden, schaut man auf die Vielzahl zeichnerischer Äußerungen im aktuellen Kunstgeschehen. Vielmehr kann von einer Renaissance gesprochen werden.1
Die zeichnerischen Äußerungen sind mannigfaltig wie die Künstler selbst. Sie reichen von der klassischen Handzeichnung bis zur animierten computergenerierten Linie; thematisch breit gefächert, ebenso wie in anderen Kunstgattungen. Die Zeichnung zeigt den Gegenstand als Umriss, in dessen Kontur und seiner Linienführung, wobei die Linie selbst als Mittel immer abstrakt ist. Denn in der Zeichnung wird automatisch abstrahiert und der Gegenstand auf das Wesentliche reduziert. Es bedarf von Seiten des Betrachters damit immer einer abstrakten gedanklichen Leistung.
Die Handzeichnungen von Nina Annabelle Märkl verbleiben nicht im Skizzenbuch oder im Rahmen, sind weit mehr als bildliche Vorstufe oder gefangen in der Zweidimensionalität des Mediums. Ihre Zeichnungen sind Mittel der Aneignung von Welt und der Hinterfragung vergangener und bestehender Weltentwürfe und Wahrnehmungskonzepte. Sie knüpft damit an historische Fragestellungen an: galt doch die Zeichnung besonders im 17. Jahrhundert als Medium der Erkenntnis und Erfahrung.
„Ich arbeite im und mit dem Medium Zeichnung. Die Zeichnung ist dabei sowohl Medium der Darstellung als auch Gegenstand der Reflexion, dessen Grenzen immer wieder neu ausgelotet werden“, sagt die Künstlerin selbst.
Die Mittel sind reduziert: Minimaler Einsatz von Schraffur und eine Beschränkung auf die Konturlinie. Es gibt keine Verwischung, sondern die schwarze Linie zeigt das Wesentliche des Gezeichneten. Räumlichkeit entsteht zumeist als reale Räumlichkeit fernab jeglichen Illusionismus. Vielmehr bricht Nina Annabelle Märkl die Grenze zwischen Raum und Zeichnung durch Aufschneiden der Zeichnung (vgl. Cut-outs) und Verschiebung von Rahmengrenzen (vgl. Installation/Stahlobjekt, u.a. Fragments of some parallel universe, 2010) auf.
Nina Annabelle Märkl erobert unter Einbeziehung von optischen Apparaturen aus der Vorzeit der Fotografie und der eindringlichen Kenntnis historischer Kontexte, wie z.B. der Wunderkammer, zeichnend den Raum. Diese Kuriositätenkabinette haben vor allem eines gemein: die Ambivalenz des Staunens, die Lust am Sehen und das verwunderte Betrachten des Andersartigen und Fremden. Die Wunderkammer etablierte sich als frühmuseale Sammlungsform in der Spätrenaissance bzw. im Barock. Die Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Objekte innerhalb der Sammlung führte nicht selten zur visuellen Überforderung des Betrachters. So fasste sie sowohl Kunst, Fundstücke aus der Natur, Bücher über Alchemie und Präparate floralen oder animalischen Ursprungs auf oftmals engstem Raum in „Kunstschränken“ zusammen. Im Zentrum der Wunderkammer stand der Gedanke der Universalität der Dinge, woraus die für heutige Betrachter wahllose Anhäufung von Verschiedenartigstem resultiert.
Wundersam sind jedoch nicht nur die Artefakte, sondern auch die Form der Betrachtung und die Verwunderung des Betrachters. Gerade mit der Entdeckung der Welt und ihrer Komplexität, bedurfte es einer Kategorisierung des Anderen – das Fremde wurde unweigerlich auf Eigenes bezogen, um es fassbar zu machen, als eine Form der Aneignung.2 Diese Aneignung beinhaltet jedoch auch immer wieder die Hinterfragung bzw. Zerstörung bestehender Bezugssysteme oder Vorstellungen. Die Kunstschränke, mit der Aufklärung als vorwissenschaftlich belächelt, tauchen formal in der Kunst der Moderne u. a. bei Marcel Duchamp (Boîte en valise, 1936-41) wieder auf.
Mit diesem kulturgeschichtlichen Wissen operiert Nina Annabelle Märkl. Schubladen eines Aktenschrankes (vgl. All these mermaids, 2009) werden zur Präsentationsform ihrer Zeichnungen, sind aber weit mehr als Rahmen, sondern vielmehr Ort des Geschehens und erzählerisches Moment. Märkl inszeniert Zeichnungen in ihnen, schafft imaginäre subjektive Archive und verdeutlicht eindringlich dem Betrachter eine Form der Aneignung von Welt.
Durch die Präsentationsform, ob formal angelehnt an die Gliederung eines Altarbildes (Small world, 2008), als Panorama, Diorama oder Schaukasten (z.B. In my mind I/II, 2010), verschwindet die Trennung von zeichnerischer Innenwelt bzw. dem subjektiv erlebten Augenblick als isoliertem Zweidimensionalen und dem Außenraum bzw. dem vom Betrachter beschrittenen Ausstellungsraum. Die Installation ermöglicht die Emanzipation der Zeichnung von der Wand und deren Raumeroberung; sie teilt den Raum mit dem Betrachter, sie bildet einen Erlebnisraum und fordert ihn als aktiven Betrachter.
Die Distanz ist aufgehoben, der Betrachter befindet sich in der Zeichnung und erlebt diese als veränderliches Gegenüber (vgl. Searching for a home, 2008). Die non-lineare Erzählung der Zeichnung wird als begehbares Pano-rama real erlebbar – immer wieder neu und anders für jeden Betrachter.
Die Stahlobjekte ermöglichen eine Befreiung aus der Beschränkung auf die Zweidimensionalität der Zeichnung im Rahmen, stattdessen wird der Rahmen strukturierendes Element der Zeichnung und damit der zeichnerischen Erzählung. Statt die Zeichnung zu limitieren, öffnet er sich, gliedert und hebt die Zeichnung in den Raum – abhängig vom Betrachterstandpunkt auf immer neue Weise. Die Zeichnung ist weder in ihrer Erzählung abgeschlossen, noch in ihrer Ausdehnung. Sie fordert weitergedacht zu werden. Die Zeichnung ist ein Organismus, der sich auch aus der Erfahrung, der Fantasie und der Wahrnehmung des Betrachters nährt. Der Betrachterstandpunkt, ebenso wie das Erfahrungswissen des Betrachters, verändern die Installation und die Bedeutung der Einzelelemente.
Das Format der Zeichnung variiert: von der kleinformatigen Zeichnung oder der sich über Wände erstreckenden Papierbahn, bis hin zur installativen Kombination von Zeichnung und Objekt. Sie verwickelt den Betrachter ins Regelwerk ihrer eigenen Räumlichkeit. Der Blick muss umherschweifen, eintauchen, sich immer wieder vergewissern, wodurch die Zeichnung nicht abschließbar wird. Sie beschreibt keinen fassbaren Ort, schildert keinen tatsächlichen Erlebnisbericht, hat keine bestimmte Zeit. Tagebuchartige Aufzeichnungen, Fragmente alltäglichen Erlebens skizziert Nina Annabelle Märkl. Sie enthebt diese Augenblicke und Gegenstände ihres Kontextes, isoliert sie, um diese Einzelnen neu zu gruppieren. Durch Neukombination mit anderen Fragmenten entwickeln sie neue Bezugs- und Bedeutungssysteme. Körperfragmente, architektonische Elemente, Landschaft und Florales, Artefakte unserer Lebensweltlichkeit, werden zeichnerisch dargestellt. Es ist Erinnertes ins Surreale überführt, sind sensible Erinnerungen an Gesehenes, ohne zur intimen Seelenschau zu werden, denn bei aller Nähe bleibt Distanz.
Es gibt nicht die lineare Geschichte, die erzählt wird, sondern das Angebot an den Betrachter: Es könnte so sein, …aber auch ganz anders. Statt linearer Erzählung schafft die Künstlerin vielmehr Eventualitäten von Weltsicht, bietet Räume für eigenes Erleben und Verstehen, macht bewusst, wie die visuelle Aneignung von Welt stattfindet.
Die historische Kontinuität der Schaulust, deren Steigerung im Jetzt und die daraus resultierende Notwendigkeit der Reflektion verdeutlicht die Künstlerin, indem sie auf Mittel zurückgreift, die an deren Beginn bzw. Höhepunkt im 19. Jahrhundert reichen. Formal sind die Mittel reduzierter, aber gerade daher entfalten sie mit Eindringlichkeit, dass das Staunen, die Lust am
Sehen, nicht auf vergangene Jahrhunderte beschränkt ist. Vielmehr befinden wir uns in einem Zeitalter visueller Dominanz und damit einer Wahrnehmung, die auf unsere Fernsinne beschränkt ist. Nina Annabelle Märkls Zeichnungen erfordern dem entgegen ein nahes Herantreten, eine langandauernde, immer wieder erneute, auslotende, hinterfragende Betrachtung.
Mirjam Elburn, Saarbrücken, April 2010
1 Vgl.: Jutta Voorhoeve: Die Zeichnung in der zeitgenössischen Kunst: Notation, Expression, Experiment unter:
http://www.khi.fi.it/forschung/projekte/projekte/projekt20/ (Forschungsprojekt am kunsthistorischen Institut Florenz).
2 Vgl. hierzu: Burghartz, Susanna: Aneignung des Fremden. Staunen, Stereotype und Zirkulation um 1600, in: Integration des Widerläufigen, hg. v. Elke Huwiler und Nicole Wachter, Hamburg 2004.
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